Gut zu wissen!

Begegnung zweier Ausreißersterne

Im Sternbild Taube mögen für den visuellen Beobachter außer dem Kugelsternhaufen NGC 1851 wenige interessante Objekte enthalten sein. Doch für die Astronomen zählt nicht nur die direkte optische Anmutung. So liegt die Bedeutung eines Himmelsobjekts oftmals in seinem Spektrum verborgen, oder sie offenbart sich erst aus der Untersuchung von anderen charakteristischen Merkmalen. In diesem Falle ist es die Bewegung zweier Sterne, die uns etwas über die Vorgänge in Sternentstehungsgebieten und über die Dynamik innerhalb unseres Milchstraßensystems erzählt.

Wir finden nämlich im kleinen Sternbild Taube zwei Sterne, die am Himmel nur knapp 4° auseinander stehen, die aber aus ganz unterschiedlichen Orten in unserer Galaxis stammen. Nur der Zufall hat sie für eine gewisse Zeit am irdischen Himmel zusammengeführt. My Columbae entstand einst in der Nähe der heutigen Trapezsterne im Orionnebel, während sich 72 Columbae in der Sternassoziation namens Sco OB 1 im Sternbild Skorpion gebildet hat. Aufgrund von dynamischen Vorgängen wurden sie aus ihren jeweiligen Sternentstehungsgebieten herausgeschleudert und entfernen sich seitdem mit hoher Geschwindigkeit von ihren Geburtsstätten. Sie zählen somit zur Gruppe der Ausreißer- oder Runaway-Sterne. Wie solche Sterne auf ihre hohen Geschwindigkeiten beschleunigt werden, ist weiter unten erklärt.

 

Der Nestflüchter My Columbae

Bereits 1954 wiesen A. Blaauw und W.W. Morgan vom Yerkes Observatory darauf hin, dass sich My Columbae offenbar mit der gleichen Geschwindigkeit (127 km/s) von der Orion-Assoziation wegbewegt wie der Stern AE Aurigae, aber in entgegengesetzter Richtung wie dieser. Deshalb vermuteten sie, dass die beiden Sterne in der Nähe des Orionnebels in einem gemeinsamen Prozess vor 2,6 Millionen Jahren entstanden waren. Diese Vermutung bestätigte sich, nachdem eine niederländische Forschungsgruppe die genauen Daten des Astrometrie-Satelliten Hipparcos ausgewertet hatten. Beide Sterne wurden offenbar mit hoher Geschwindigkeit fortgeschleudert, als sich zwei enge Doppelsternsysteme kurz nach ihrer Entstehung so nahe kamen, dass die Gravitationswechselwirkung eines der beiden Sternsysteme zerriss. Am Ort des Geschehens blieb ein enges Doppelsternsystem zurück, das wir als Iota Orionis, ein Stern der Helligkeit 2,8 mag, unmittelbar südlich des Orionnebels sehen.

Das Zerreißen des einstigen Doppelsternsystems aus My Columbae und AE Aurigae führte dazu, dass beide Sterne mit ihren ursprünglichen Umlaufgeschwindigkeiten in entgegengesetzten Richtungen davonflogen. Von der irdischen Perspektive aus betrachtet zog My Columbae nach Süden, AE Aurigae nach Norden. Inzwischen haben sie ihren gemeinsamen Entstehungsort, der damals etwa an der Stelle lag, an der sich heute der Stern Eta Orionis (η Ori) befindet, weit hinter sich gelassen. My Columbae ist seitdem um mehr als 30° am irdischen Himmel nach Süden gewandert, AE Aurigae mehr als 38° nach Norden.

Auf ihre enge Verwandschaft weist heute noch die ähnliche chemische Zusammensetzung hin. Beide Sterne haben den Spektraltyp O9,5V, sind also sehr junge Hauptreihensterne mit hoher Oberflächentemperatur und hoher Leuchtkraft. My Columbae ist mit einer Entfernung von 1500 Lichtjahren von allen Sternen im Sternbild Taube, die gemäß der Bayer-Notation einen griechischen Buchstaben tragen, der fernste. Mit einer scheinbaren Helligkeit von 5,18 mag ist er für das freie Auge noch recht gut sichtbar. Sein Zwilling AE Aurigae, der 1300 Lichtjahre von uns entfernt ist, erscheint dem menschlichen Auge mit einer Helligkeit von 5,96 mag. Er ist also nur unter idealen Beobachtungsbedingungen ohne optisches Instrument wahrzunehmen.

 

72 Col: Der Stern, der aus der Ferne kam

Eine noch längere und weitere Reise hat der Stern 72 Columbae hinter sich. Er ist ein Doppelstern, der dem bloßen Auge als Stern der Helligkeit 5,63 mag erscheint und etwa 950 Lichtjahre von uns entfernt ist. Mit der hohen Geschwindigkeit von 190 km/s bewegt er sich durch den Raum. Durch Rückrechnen seiner Bahn fand T.S. van Albada heraus, dass das Sternsystem mit hoher Wahrscheinlichkeit vor 14 Millionen Jahren aus der OB-Assoziation Sco 1 herausgeschleudert wurde. Diese Sternassoziation ist heute etwa 5400 Lichtjahre von uns entfernt, und sie liegt deutlich näher am galaktischen Zentrum als unsere Sonne. Der Umstand, dass wir 72 Columbae heute nicht in Richtung des Sternbilds Skorpion sehen, sondern am Himmel mehr als 100° davon im Sternbild Taube, zeigt, dass der Ausreißerstern mittlerweile sogar weiter vom galaktischen Zentrum entfernt ist als unsere Sonne.

Mit 72 Columbae haben wir ein Beispiel eines Ausreißersterns, der sich heute in der Sonnenumgebung befindet, der aber einst weit weg von der Sonne entstanden ist.

Pfeile markieren die Richtung der Eigenbewegung der Sterne 72 und My Columbae

Die Sterne My Columbae (μ Col) und 72 Columbae sind gewissermaßen nur auf der Durchreise und bewegen sich in unterschiedlichen Richtungen durch das Sternbild Taube. Die Pfeile geben die Richtung der Eigenbewegung der Sterne an, ihre Länge markiert den Betrag der Eigenbewegung, der hier allerdings um den Faktor 100 000 überhöht ist. (Bild: Uwe Reichert)

Vier Ausreißersterne, die ihren Ursprungsort bald nach ihrer Entstehung verlassen haben, sind heute an ganz anderen Stellen am Himmel anzutreffen

Die Sterne My Columbae und AE Aurigae bewegen sich in unterschiedlicher Richtung, aber mit ähnlicher Geschwindigkeit über den Himmel. Die Rückrechnung ihrer Bahnen führt auf einen gemeinsamen Entstehungsort, an dem sich damals das Sternentstehungsgebiet im Orion befand (gelber Kreis). In den seitdem vergangenen 2,6 Millionen Jahren hat sich das Sternentstehungsgebiet an die heutige Position im Orion verlagert (roter Kreis), wo später auch die Trapezsterne entstanden, die den Orionnebel beleuchten. AE Aurigae und My Columbae müssen einst ein enges Doppelsternsystem gebildet haben, das durch die gravitative Wechselwirkung mit einem nah vorbeiziehenden zweiten Doppelsternsystem auseinandergerissen wurde. Dieses zweite Sternsystem ist intakt geblieben, und wir sehen es heute als Stern Iota Orionis (ι Ori) unmittelbar südlich vom Orionnebel. Der Stern 72 Columbae, den wir heute nur vier Grad von My Columbae entfernt sehen, hat eine noch weitere Reise hinter sich. Er entstand vor etwa 14 Millionen Jahren in einem Sternentstehungsgebiet im Sternbild Skorpion und hat seitdem einen weiten Bereich des Himmels überquert. (Bild: Uwe Reichert, nach R. Hoogerwerf et al. und T.S. van Albada)

Kurz erklärt: Wie Runaway-Sterne entstehen

Den Begriff Runaway-Sterne schlug der Astronom Jesse Greenstein von den Mount Wilson and Palomar Observatories im Jahr 1957 vor. Damit werden junge Sterne mit den Spektraltypen O oder B bezeichnet, die zur extremen Population I gehören und sich mit Geschwindigkeiten zwischen 40 bis mehr als 100 km/s durch den Raum bewegen. Solche Sterne sind jünger als 100 Millionen Jahre, sind in offenen Sternhaufen oder OB-Assoziationen entstanden und haben sich aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit mittlerweile weit von ihrer Geburtsstätte entfernt. Damit sind sie gewissermaßen die Nestflüchter unter den Sternen.

Kurz nach der Entstehung der Ausreißersterne müssen sie auf ihre hohe Geschwindigkeit beschleunigt worden sein. Dafür kommen zwei Mechanismen in Frage:

  • Die Explosion einer Supernova in einem engen Doppelsternsystem. Wenn die massereiche Primärkomponente zur Supernova wird, hinterlässt sie einen Neutronenstern oder ein Schwarzes Loch geringerer Masse, während die nach außen beschleunigte Materie ins All hinausgestoßen wird. Erreicht die expandierende Gashülle den Radius, der dem Abstand der beiden Sterne entspricht, reduziert sich die ursprüngliche Anziehungskraft auf die Sekundärkomponente erheblich, und diese wird etwa mit ihrer bisherigen Umlaufgeschwindigkeit aus dem System herausgeschleudert.
  • Die gravitative Wechselwirkung von Sternen, die sich sehr nahe kommen. In kompakten Sternhaufen hoher Sterndichte ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass sich ihre Mitglieder in engem Abstand begegnen. Ein Stern, der dicht an einem Doppelsternsystem vorbeizieht, kann dieses auseinanderreißen, wodurch beide Partner in etwa entgegengesetzten Richtungen davonfliegen. Besonders hohe Ausstoßgeschwindigkeiten werden erreicht, wenn zwei Doppelsternsysteme an der gravitativen Wechselwirkung beteiligt sind. Von der speziellen Dynamik des Vorgangs hängt es dann ab, welche von vier möglichen Konfigurationen entsteht: (a) zwei Doppelsternsysteme, (b) ein hierarchisches Dreifachsystem und ein Einzelstern, (c) ein Doppelsternsystem und zwei Einzelsterne oder (d) vier Einzelsterne.