Beinahe-Zusammenstoß in der Erdumlaufbahn

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Uwe Reichert
16. Oktober 2020

Das war knapp: In vermutlich weniger als 25 Meter Abstand rasten zwei ausgediente Raumflugkörper aneinander vorbei – mit der zehnfachen Geschwindigkeit eines Artilleriegeschosses. Eine Kollision hätte eine Vielzahl von Trümmerteilen erzeugt und damit andere Satelliten gefährdet.

Ein alter Nachrichtensatellit und die Oberstufe einer Trägerrakete sind am 16. Oktober 2020 nur um Haaresbreite einer Kollision in knapp 1000 Kilometer Höhe über der Erdoberfläche entgangen. Keiner der beiden ausgedienten Raumflugkörper hätte aktiv einem Zusammenprall ausweichen können. So war es denn purer Zufall, dass sich die beiden Objekte auf ihren sich kreuzenden Umlaufbahnen verfehlten. Ein Zusammenprall hätte eine Trümmerwolke erzeugt, die auch andere Satelliten hätte schädigen können. Ein solches Szenario ist gefürchtet, denn eine Kettenreaktion solcher Ereignisse würde nicht nur viele Raumflugkörper zerstören, sondern viele Umlaufbahnen auf lange Sicht hin unbrauchbar machen.

Der Vorfall zeigt, wie Weltraumschrott die Raumfahrt gefährdet. Rund 2800 aktive Satelliten umkreisen derzeit die Erde auf Umlaufbahnen in verschiedenen Höhen. Sie dienen der Telekommunikation, der Erdbeobachtung, der Navigation und einer Vielzahl von wissenschaftlichen und militärischen Zwecken. Hinzu kommen viele tausend Relikte aus früheren Raumfahrtunternehmungen, die keinen Zweck mehr erfüllen, aber immer noch wie Geschosse zwischen den aktiven Raumflugkörpern herumschwirren. Die Spannbreite reicht dabei von ausgedienten Satelliten und Raketenstufen bis herab zu Lacksplittern, die einst von Trägerraketen oder ihren Oberstufen abplatzten.

Was diese unkontrolliert herumfliegenden Teile so gefährlich macht, ist ihre hohe Geschwindigkeit. Mit rund 27 000 Kilometern pro Stunde umkreisen sie die Erde. Dadurch hat selbst ein Lacksplitter mit einer Masse von 60 Milligramm die gleiche Bewegungsenergie wie das Projektil eines NATO-Sturmgewehrs. Entsprechend heftig ist die Durchschlagswirkung.

Im aktuellen Fall betrug die Masse der beiden Raumflugkörper rund zwei Tonnen. Da sie sich auf ihren Bahnen gegenläufig kreuzten, erreichte ihre Relativgeschwindigkeit 14,66 Kilometer pro Sekunde, also 52 800 Kilometer pro Stunde. Selbst ein Streifschuss hätte eine erhebliche Anzahl von Trümmerteilen verursacht. Was mit solchen Fragmenten passiert, ist aus Simulationen und leider auch aus früheren Kollisionen bekannt: Sie bewegen sich im Wesentlichen auf der ursprünglichen Bahn weiter, driften jedoch auseinander, so dass schließlich eine weit aufgefächerte Wolke aus Schrapnellgeschossen entsteht, die durch den Erdorbit ziehen und über lange Zeiten hinweg andere Raumflugkörper gefährden.

Auf das Risiko einer bevorstehenden Kollision hatte das Unternehmen LeoLabs aufmerksam gemacht. Mit eigenen Radaranlagen verfolgt LeoLabs die Bewegung von Satelliten und Weltraumschrott im niedrigen Erdorbit. Modellrechnungen hatten ergeben, dass der russische Satellit Kosmos 2004 und die Oberstufe einer chinesischen Trägerrakete vom Typ Langer Marsch in einer Höhe von 991 Kilometern schräg aufeinander zu rasen und am 16. Oktober 2020 um 00:56:40,75 Uhr UTC mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als zehn Prozent kollidieren würden.

Zehn Minuten nach dem errechneten Kollisionszeitpunkt sollte die chinesische Oberstufe die Radaranlage von LeoLabs in Neuseeland überfliegen. Die Erleichterung war groß, als das Radar nur ein einzelnes Objekt erfasste und sich keine Hinweise auf Trümmerteile ergaben. Einige Stunden später gab das Unternehmen bekannt, dass auch Kosmos 2004 intakt beobachtet worden sei.

Quelle:

Modellrechnungen ergaben räumliche Wahrscheinlichkeitsmuster für eine mögliche Kollision

Der Satellit Kosmos 2004 und die Raketen-Oberstufe CZ-4C R/B rasten fast frontal aufeinander zu. Die letzte Modellrechnung vor dem erwarteten Kollisionszeitpunkt ergab einen Abstand von ungefähr 25 Metern. (Bild: LeoLabs)

Ein Radar auf Neuseeland konnte zehn Minuten nach der kritischen Annäherung die Raketenoberstufe unversehrt nachweisen.

Der Fußpunkt der erwarteten Kollision lag über der Antarktis. Zehn Minuten nach dem errechneten Kollisionszeitpunkt erfasste ein Radar auf Neuseeland die offenbar intakte Raketen-Oberstufe CZ-4C R/B, ohne Trümmerteile zu registrieren. (Bild: LeoLabs)

Die Anzahl katalogisierter Objekte in der Erdumlaufbahn ist inzwischen auf 20000 gestiegen. Mehr als die Hälfte davon sind Trümmerteile.

Insgesamt sind rund 20 000 Objekte in einer Erdumlaufbahn katalogisiert, die größer als etwa fünf Zentimeter sind. Die meisten sind Trümmerteile, die durch Explosionen von Tanks oder durch Kollisionen entstanden. Der steile Anstieg der Kurve „Fragmentation Debris“ im Januar 2007 ist auf den Test einer Antisatellitenwaffe durch die Volksrepublik China zurückzuführen, bei dem ein alter Wettersatellit durch den Aufprall einer Abwehrrakete zerstört wurde. Ein zweiter Anstieg im Februar 2009 wurde durch den Zusammenprall des aktiven Iridium-33-Kommunikationssatelliten mit dem ausgedienten russischen Strela-Kommunikationssatelliten Kosmos 2251 verursacht. (Bild: NASA, Quelle: Orbital Debris Quarterly News, Vol. 24, Issue 1, February 2020)