Sternbild Jungfrau (Virgo)

Die Jungfrau (lateinisch Virgo) ist das zweitgrößte Sternbild am Himmel und das größte der zwölf Tierkreissternbilder. Es erstreckt sich beiderseits des Himmelsäquators und ist von allen bewohnten Gegenden der Erde zu sehen. In den Monaten April und Mai steht die Jungfrau besonders günstig am Abendhimmel. Die Kulmination um Mitternacht erfolgt Mitte April.

Zwei Sterne markieren die Ekliptik: Spica und Porrima

Das Sternbild ist trotz seiner großen Ausdehnung nicht sehr markant. Der mit 0,97 mag hellste Stern, Spica (Alpha Virginis, α Vir), ist jedoch leicht aufzufinden: Man folgt dem Bogen, den die Sterne der Deichsel des Großen Wagens bilden, über Arktur (Alpha Bootis) weiter in südliche Richtung. Spica liegt fast direkt auf der Ekliptik, so dass die Sonne, der Mond und die Planeten dicht an diesem Stern vorbeiziehen. Gelegentlich kommt es auch zu einer Bedeckung durch den Mond.

Der Krümmung in der Deichsel des Großen Wagens folgend, gelangt man am Himmel zu den hellen Sternen Arktur im Bärenhüter und Spica in der Jungfrau.Nur zwei weitere Sterne erscheinen uns heller als 3 mag: Gamma und Epsilon Virginis (γ und ε Vir), die auch unter ihren Eigennamen Porrima und Vindemiatrix bekannt sind. Porrima ist jedoch ein enger Doppelstern aus zwei etwa gleich hellen Komponenten von 3,5 mag. Auch er liegt fast auf der Ekliptik, allerdings knapp 3° nördlich davon, während Spica 2° südlich von dieser scheinbaren Sonnenbahn liegt. Die Mehrzahl der mit bloßen Augen sichtbaren Sternen ist lichtschwächer als 4 mag. Das Sternbild ist also trotz seiner Größe nicht sehr auffällig. Nur mit etwas Mühe lässt sich eine liegende Gestalt in die Konstellation hineininterpretieren, wie es der traditionellen Beschreibung entsprechen soll.

Im Schnittpunkt von Himmelsäquator und Ekliptik

Umrahmt wird die Jungfrau von acht Sternbildern: Im Norden vom Bärenhüter (Bootes) und dem Haar der Berenike (Coma Berenices), im Westen vom Löwen (Leo) und dem Becher (Crater), im Süden vom Raben (Corvus) und der Wassserschlange (Hydra), sowie im Osten von der Waage (Libra) und der Schlange (Serpens).

Die Sonne durchläuft das Sternbild Jungfrau vom 16. September bis zum 31. Oktober. Ihre scheinbare Bahn am Himmel, die Ekliptik, schneidet den Himmelsäquator im westlichen Teil dieser Konstellation. Die Sonne passiert diesen Äquinoktialpunkt von nördlichen Deklinationen her kommend am 22. oder 23. September. An jenem Datum sind Tag und Nacht auf der gesamten Erde gleich lang (Tagundnachtgleiche), und auf der nördlichen Hemisphäre der Erde beginnt der Herbst, auf der südlichen der Frühling.

Die Jungfrau (lat. Virgo) ist ein Tierkreissternbild am Himmelsäquator.

Das Sternbild Jungfrau ist zwar die zweitgrößte Konstellation am Himmel, doch bilden die Sterne kein auffallendes Muster. Teleskope enthüllen jedoch eine Vielzahl an Galaxien. (Bilder: Uwe Reichert)

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Links zeigt eine mit Koordinaten versehene Karte eines Himmelsausschnitts weiße Sterne auf hellblauem Hintergrund. Die Fläche, die das Sternbild Jungfrau einnimmt, ist dunkelblau hervorgehoben. Eine Tabelle rechts gibt wichtige Daten des Sternbilds an.

Besondere Himmelsobjekte

Hinweis: Dieser Abschnitt ist in Bearbeitung.

Ursprung des Sternbilds Jungfrau

Als Sternbild, das auf der Ekliptik liegt und somit dem Tierkreis angehört, zählt die Jungfrau zu den ältesten Konstellationen am Himmel. Seit frühesten Zeiten steht sie als Symbol für die Mutter Erde und für die Fruchtbarkeit.

Damit einher geht auch die Bedeutung ihres Hauptsterns Spica: Der aus dem Lateinischen stammende Name Spica bedeutet „Kornähre“, und dieses Sinnbild verkörperte dieser Stern bereits im alten Babylonien. Die Kornähre war dort das Symbol von Shala (auch Šāla geschrieben), der Göttin der Feldfrüchte und der Ernte. Ihr Gemahl, der Wettergott Adad, brachte den Feldern den benötigten Regen. Als astrale Form der Shala galt ein Stern im Sternbild Jungfrau, der auf sumerisch AB.SIN, auf akkadisch Šerʾu genannt wurde, was „die Saatfurche“ bedeutet. Da nur ein Stern in der Jungfrau an Helligkeit heraussticht, dürfte es sich bei AB.SIN beziehungsweise Šerʾu um Spica handeln.

Spica, die Kornähre, kündigt den Herbst an

Der astronomische Hintergrund dieser Vorstellungswelt ist ein einfacher: Im Sternbild Jungfrau befindet sich einer der beiden Schnittpunkte von Himmelsäquator und Ekliptik. Und zwar derjenige, den die Sonne auf ihrer scheinbaren Jahresbahn von Norden her kommend überquert. Dieses Äquinoktium markiert auf der nördlichen Erdhalbkugel die Herbst-Tagundnachtgleiche, also den Beginn des Herbstes.

Dieser Herbstpunkt liegt heute im westlichen Bereich des Sternbilds Jungfrau. Wegen der Präzession der Erde, welche die Lage von Frühlings- und Herbstpunkt am Himmel verschiebt, befand sich der Herbstpunkt im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung viel weiter östlich, nämlich nur etwa 2° vom Stern Spica entfernt. Und noch früher, zwischen 2500 und 700 v. Chr. – dem Zeitraum, in dem in Mesopotamien ein Großteil der klassischen Sternbilder geprägt wurde – lag der Herbstpunkt im Sternbild Waage. Zu jener Zeit markierte der heliakische Aufgang von Spica im Osten den Beginn des Herbstes. Eine ähnliche Bedeutung hatte, zumindest bei den alten Griechen, der Stern Arktur im Bärenhüter. Der heliakische Untergang von Spica – das letztmalige kurze Sichtbarwerden in der Abenddämmerung kurz vor ihrem Untergang – war Mitte August. Somit war Spica gerade in den für die Landwirtschaft wichtigen Wochen der Saatzeit nicht sichtbar. In der Vorstellung der Menschen der Antike war der Stern wie die Saatkörner in der „Unterwelt“ verschwunden.

Allegorie auf die wechselnden Jahreszeiten

Diese astronomische Eigenschaft von Spica ließ im gesamten vorderasiatischen Raum Mythen entstehen, die den Stern und das gesamte Sternbild in Verbindung mit der Ernte und der Fruchtbarkeit allgemein brachten. Das geerntete Korn wurde im metaphorischen Sinne als Produkt der sexuellen Vereinigung eines Götterpaares betrachtet. Im alten Babylon waren dies Shala und Adad. Im Zuge der kulturellen und religiösen Veränderungen im mesopotamischen Raum scheinen einige von Shalas Eigenschaften auf andere Göttinnen übergegangen zu sein. Bei den Akkadern war es Ishtar, bei den Sumeren Inanna. Auch in Ägypten und im antiken Griechenland finden sich mit Isis und Demeter entsprechende Göttinnen.

Die Mythen, die mit diesen weiblichen Gottheiten verbunden wurden, sind Allegorien auf die wechselnden Jahreszeiten. Jede von ihnen begibt sich in die Unterwelt, um eine geliebte Person zu retten. Der Abstieg in die Unterwelt und die Rückkehr von dort symbolisierten das jährliche Absterben der Vegetation im Herbst und ihre Erneuerung im Frühjahr.

Als Beispiel sei der griechische Mythos skizziert. Demeter, die Getreide- und Fruchtbarkeitsgöttin, hatte von Zeus eine Tochter namens Persephone, die auch den Beinamen Kore, (Mädchen oder Tochter), trug. Hades, der Gott der Unterwelt, entführte das Mädchen eines Tages als Braut in sein Reich. Demeter forderte daraufhin Zeus auf, ihre Tochter zurückzuholen. Doch dies war nicht mehr möglich; Zeus konnte lediglich bestimmen, dass Persephone die Hälfte eines Jahres bei ihrem Mann in der Unterwelt und die andere Hälfte oben auf der Erde bei ihrer Mutter im Land der Lebenden weilen sollte. So wie Persephone verbringen auch die Saaten der Früchte eine Zeit des Jahres vergraben in der Erde, bis sie im Frühjahr wieder ans Tageslicht kommen.

Wie die Jungfrau zu ihren Flügeln kam

Wohl diesen Mythos hatte Claudius Ptolemäus im Sinn, der in seinem Almagest das Sternbild Parthenos (παρθένος) nannte, was ähnlich wie Kore (κóρη) Mädchen, junge Frau oder Jungfrau bedeutet. In der einen Hand hält die junge Frau eine Ähre, die den Stern Spica symbolisiert. Allerdings verlieh Ptolemäus der weiblichen Gestalt Flügel. Eine solche Darstellung ist eher mit der griechischen Göttin Dike verbunden, die als jungfräuliches Abbild ihrer Mutter Themis galt. Dike soll in einem frühen Zeitalter auf der Erde gelebt haben, als der Frühling ewig währte, die Äcker von selbst Früchte trugen und die Menschheit in Frieden lebte. Doch als die Menschen streitsüchtig wurden und die Gerechtigkeit nicht mehr achteten, flüchtete sich Dike in die Berge und schließlich – als es mit Gewalttaten und Kriegen noch ärger kam – an den Himmel neben das Sternbild Waage.

Die Beschreibung des Ptolemäus übernahmen spätere Himmelskartografen. Deshalb finden wir in historischen Sternatlanten wie der Uranometria des Johann Bayer oder dem Atlas von Johannes Hevelius die Jungfrau in engelsgleicher Gestalt mit großen Flügeln und einer Ähre in der Hand haltend.

Das Sternbild Jungfrau im historischen Sternatlas von Johannes Hevelius.

Eine Seite aus dem Sternatlas von Johannes Hevelius zeigt das klassische Sternbild Jungfrau (Virgo) in der von Ptolemäus beschriebenen Weise: als Göttin mit Flügeln, die an der Stelle des Sterns Spica eine Ähre in der Hand hält. Wir sehen die Göttin von hinten, weil Hevelius die Sternbilder so darstellte, als würde man die Himmelskugel von außen betrachten. (Aus: Johannes Hevelius, Sternenatlas, russische Ausgabe, Taschkent 1978. Repro: Uwe Reichert)

Darstellung des Sternbilds Jungfrau im Sternatlas von Johann Bayer.

Eine Doppelseite aus dem historischen Sternatlas von Johann Bayer zeigt das Sternbild Jungfrau ebenfalls mit Flügeln und einer Ähre. Mit dem schraffierten Band um die Ekliptik herum markierte Bayer den Bereich, in dem sich die Planeten bewegen können. (Bild: Mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus der Faksimile-Ausgabe der Uranometria 1603 von Johann Bayer, KunstSCHÄTZEverlag 2010, und der Universitätsbibliothek Heidelberg.)

Quellen:
  • John H. Rogers: Origins of the ancient constellations: I. The Mesopotamian traditions. Journal of the British Astronomical Association 108, S. 9-28 (1998)
  • Daniel Schwemer: Die Wettergottgestalten Mesopotamiens und Nordsyriens im Zeitalter der Keilschriftkulturen. Harrassowitz, Wiesbaden 2001
  • Daniel Schwemer: The Storm-Gods of the Ancient Near East: Summary, Synthesis, Recent Studies. Part I. In: Journal of Ancient Near Eastern Religions 7/2, S. 121-168 (2007).
  • Eckhard Slawik und Uwe Reichert: Atlas der Sternbilder. Heidelberg, Berlin 1998